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TAUSEND THEORIEN (60)
Je kleiner der Mensch, desto größer die Welt
Über erste Theorien · Von Diedrich Diederichsen

Das nächste Mal kommt wieder das Denken der Straße und der Stadt zur Welt. Heute die Theorien von Kindern. Die machen aber nur Theorien, wenn sie genügend Vertrauen zu Haus und Garten entwickeln. Schon früh beginnt man, sich die Welt zu erklären. Die ersten Theorien sind von schon vorhandenen Lehrgebäuden noch wenig beeinflußt. Man mag die Eltern nach Gott und dem Tod fragen, aber da man keine wirklich befriedigenden Antworten erhält, begreift man, daß es nun von den eigenen Erklärungen abhängt, ob man sich gegen die bohrenden und ungeklärten Fragen ein bißchen Seelenfrieden verschaffen kann. Eine gute Theorie entscheidet nun darüber, ob man nachts schlafen kann.

Erstaunlich ist, wie viele kleine Kinder in dieser Zeit diese Theorie entwickeln: Alle Menschen müssen sterben, okay, das kann man akzeptieren, es scheint wirklich so zu sein. Es gibt Erfahrungswerte. Aber dies trifft ja nur auf die Vergangenheit zu, vorwiegend auf alte Menschen. Ich bin aber der erste Mensch, der unsterblich sein wird. Dessen bin ich ganz sicher. Keine Ahnung, woher die Kinder das so genau wissen, aber wenn sie erwachsen sind, erinnern sie sich noch genau daran, diesen Gedanken gehabt zu haben.

Kindliche Theoriebildung hat sehr viel mit Geltungsbereichen zu tun. Für wen oder was soll meine Theorie gültig sein? Da die soziale Differenzierung noch nicht weiter geführt hat, als Kinder, mit denen man spielen darf, von denen zu unterscheiden, mit denen man besser nicht spielen sollte, tendieren die Theorien der Kinder dazu, das ganze Universum erklären zu wollen. Auch wenn die Klassenkämpfe unter Kindern heute härter sind als zu meiner Kinderzeit: Es gibt noch keine Grenze für ihren Einzugsbereich. Je kleiner der Mensch, desto größer seine Welt. Kinder müssen Unendlichkeit erklären, Erwachsene machen sich Gedanken über den Unterschied von Mitte und Prenzlauer Berg. Und die Pointe einer Kindertheorie ist meistens eine punktuelle Einschränkung ihres Geltungsbereiches. Ein anderer kleiner Junge glaubte zum Beispiel, daß alle Frauen, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht haben, Männer werden. Seine Großmutter war aber die erste Frau, für die diese Theorie nicht galt.

Eine meiner liebsten Kinderkosmologien ist inzwischen von einem berühmten Physiker - als denkbar - bestätigt worden. Alles passiert, was passieren könnte. Aber die Konsequenzen können uns egal sein, weil sie nur in einem von unendlich vielen Paralleluniversen stattfinden. Jedesmal, wenn etwas geschehen ist, das auch anders ausgegangen sein könnte, entsteht ein neues Paralleluniversum, jede knappe Entscheidung fällt auch anders und gebiert eine neue Welt. Unser Bewußtsein bleibt aber immer in der Welt, in der es für uns noch am besten ausgegangen ist. Wir bleiben immer da, wo es gutgegangen ist, und leben da weiter. Aber die Schicksale aller anderen um uns herum sind nicht immer die jeweils günstigsten. Wir gehen also davon aus, daß wir von diesen anderen nicht die Version sehen, die in der für sie besten Welt geblieben ist, sondern irgendeine zwischen bestmöglich und schlimmstmöglich. Nur das reflexive Ich lebt also in der besten der möglichen Welten - alle anderen je nach Zufallsverteilung in irgendeiner Welt dazwischen - jedenfalls von uns reflexiven Ichs aus gesehen.

Der Widerspruch war immer der, daß, wenn ich in der besten möglichen Welt für mich lebe, die anderen, die das nicht tun, entweder nicht authentisch reflexive Ichs besitzen - oder daß es doch anders laufen könnte. Daß man nur bis zu einem bestimmten Punkt mit seinem Bewußtsein im richtigen Universum landet - und dann irgendwann doch nicht oder nicht mehr selbst entscheiden kann. Schließlich werden auch Bürgerkinder zuweilen krank. Muß man dann doch in das Universum, wo man mit dem Auto angefahren wird und an Krücken gehen muß? Oder kann man doch ewig auf der richtigen Seite bleiben, und die kleinen Kümmernisse sind immer noch bestmögliche Lösungen? Und kann man zwischen den auf verschiedenen Entscheidungen basierenden Universen kommunizieren?

Jedenfalls hat vor ein paar Jahren in der "Zeit" ein Outsider- Wissenschaftler, nein, keine Eso-Type, genau diese Kosmologie vertreten. In dem Artikel stand, daß die Mehrheit der Zunft zwar die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde, es gäbe aber auch ernst zu nehmende Kollegen, die das erwägenswert fänden. Natürlich meinten die nur den Paralleluniversumsteil. Meine Kinderkosmologie läuft aber ja im Prinzip darauf hinaus, daß "Ich-denken-Können" zur Unverwundbarkeit und Unsterblichkeit führt. Daß leidende Mitmenschen irgendwie nicht ganz wirklich sind, Leid immer nur in der nicht endgültigen und nicht ganz gültigen Version des Universums vorkommt, derjenigen, gegen die sich das Bewußtsein entscheiden kann. Interessanterweise ist es bei Erwachsenen ja genau umgekehrt: Sie halten nur Leid für wirklich authentisch und können den anderen nur in seinem Leid anerkennen. Oft nicht einmal dann, seufzen jetzt viele. Seine Majestät das Kind lebt dagegen immer in "Truman's World" und denkt - auch diese Welterklärung ist ja bei Kindern immens verbreitet -, daß die anderen nur Staffage und Statisten in dem Film "Mein Leben" sind. Wenn der Geltungsbereich meiner Theorie alles umfaßt, trifft er eigentlich doch nur auf mich zu. Alles für mich. So ähnlich ja auch der Tausend-Theorien-Autor Fichte.

Am tröstlichsten wäre dann vielleicht doch die erste Theorie, an die ich mich erinnern kann. Das Leben nach dem Tode gleicht dem Leben davor. Das Leben auf der Erde ist nur eine Unterbrechung. Vor und nach dem Tode hält man sich aber in einer Welt auf, die aussieht, wie wenn man mit Legosteinen baut, aber ohne etwas Konkretes, ein Haus etwa, zu bauen, sondern wenn man ungegenständlich willkürlich, ja rein ästhetisch geleitet Legosteine aufeinanderschichtet. Die Ewigkeit - das sind abstrakte Legowelten. Japanische Architekten ahnen manchmal etwas von der Wahrheit dieser Theorie. Sie gilt nämlich überall, und man kann auch andere Steine benutzen, wenn sie nur entsprechend glatt sind. Alle diese Theorien stammen von weitgehend behütet aufwachsenden Kindern. Und denkt nicht jeder, auch der nichtjapanische Architekt, gerne so, als würde er von einer Welt ausgehen, in der er, weitgehend ohne lästige Nebenbedingungen, mit Häusern das Modell wie die konkreten Bedingungen von Glück schaffen kann - und damit die Voraussetzungen der hier referierten Theorien. Und führt diese Behütetheit irgendwie zwangsläufig zu Erinnerungen an und Hoffnungen auf abstrakte Ewigkeiten?

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