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Aus: Herbert Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Frankfurt a.M. 1972,
Edition Suhrkamp SV, ISBN 3-518-00591-X (600)

Die Konterrevolution ist weitgehend präventiv; in der westlichen Welt ist sie das ausschließlich. Hier gibt es keine neuere Revolution, die rückgängig gemacht werden müßte, und es steht auch keine bevor. (S. 8)

Ohne diese mörderische Konkurrenz könnte der Sozialismus die Fetischisierung der „Produktivkräfte“ überwinden. (S.9)

Die herrschenden materiellen Bedürfnisse und Befriedigungen werden geprägt- und kontrolliert- durch die Erfordernisse der Ausbeutung. (S.9)

Das Gesetz des kapitalistischen Fortschritts liegt in der Gleichung: technischer Fortschritt = wachsender gesellschaftlicher Reichtum (wachsendes Bruttosozialprodukt) = größere Knechtschaft. Die Ausbeutung rechtfertigt sich damit, daß die Warenwelt und das Angebot an Dienstleitungen sich ständig vermehren - die Opfer gehören zu den laufenden Unkosten, zu den „Unfällen“ auf dem Weg zum guten Leben. So ist es kein Wunder, daß dort, wo die kapitalistische Technostruktur noch einen relativ hohen Lebensstandard und eine gegen öffentliche Kontrolle faktisch immune Machtstruktur ermöglicht, die Bevölkerung dem Sozialismus interesselos, wenn nicht gar feindlich gegenübersteht. (S.10)

...: der Sozialismus erscheint nicht mehr als die bestimmte Negation des Kapitalismus. Konsequenterweise lehnt diese Politik die revolutionäre Strategie der Neuen Linken ab und muß sie ablehnen, eine Strategie, die auf einem Begriff von Sozialismus beruht, der den Bruch - und zwar von Anbeginn - mit dem Kontinuum der Abhängigkeit beinhaltet: das Entstehen der Selbstbestimmung als Prinzip des Umbaus der Gesellschaft.(S.11)

Zusammenfassend kann man sagen: der höchsten Stufe der kapitalistischen Entwicklung entspricht in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ein Tiefstand revolutionären Potentials.(S.11)

Die innere Dynamik des Kapitalismus verändert mit der Struktur des Kapitalismus auch die der Revolution: weit davon entfernt, die potentielle Massenbasis für eine Revolution zu schmälern, verbreitet sie sie vielmehr und erheischt das Wiederaufleben der radikalen an Stelle der minimalen Ziele des Sozialismus. (S.12)

An der Basis der Pyramide herrscht Atomisierung. Diese verwandelt das ganze Individuum - Körper und Geist - in ein Instrument oder gar in den Teil eines Instruments: aktiv oder passiv, produktiv oder rezeptiv, in seiner Arbeits-wie Freizeit dient es dem System. (S.21)

Die Bevölkerung steht den Radikalen, den beliebten Zielpunkten gerichtlicher Verfolgungen und anderer Schikanenen, äußerst feindselig gegenüber. Aber dieser Tiefstand revolutionären Potentials auf dem Höhepunkt der kapitalistischen Entwicklung ist trügerisch: die Täuschung verschwindet, sobald wir begreifen, daß sich auf dieser Stufe eine neue Form der Desintegration und Revolution herausbildet, die der neuen Phase des Kapitalismus: dem staatsmonopolistischen Kapitalismus, entspricht und von ihr hervorgebracht wird. Diese Einsicht erfordert nicht etwa eine Revision der Marxschen Theorie, sondern ihre Wiederherstellung: die Emanzipation von ihrer Fetischisierung und Ritualisierung, von der versteinerten Rhetorik, die ihre dialektische Entwicklung verhindert.(S.39)

Im gegenwärtigen Stadium ist die Neue Linke zwangsläufig und wesentlich eine intellektuelle Bewegung, und der in ihren eigenen Reihen praktizierte Anti-Intellektualismus arbeitet dem Establishment in die Hände.(S. 43)

Die Marxsche Theorie bleibt die Richtschnur dern Praxis, selbst in einer nicht-revolutionären Situation. Aber hier wird eine andere Schwäche der Neuen Linken deutlich: die Verzerrung und Verfälschung der Marxschen Theorie durch deren Ritualisierung.(S. 43)

Die Reduktion der Marxschen Theorie auf feste „Strukturen“ scheidet die Theorie von der Wirklichkeit und verleiht ihr einen abstrakten, distanzierten, „wissenschaftlichen“ Charakter, der ihre dogmatische Ritualisierung erleichtert.
(S.44)

Die Einheit von Theorie und Praxis besteht niemals unmittelbar. (S.45)

Die jeweilige Wirklichkeit ist vorgegeben; sie bsteht aus eigener Kraft: sie ist der Boden, auf dem sich die Theorie entwickelt, und doch auch das Objekt, „das Andere der Theorie“, dessen Veränderungen die Theorie weiterhin determinieren.
(S.45)

Nicht die Arbeiterklasse, sondern die Universitäten und die Gettos stellten die erste wirklichen innere Bedrohung für das System dar.....Heute ist das System vorbereitet - und zwar so gründlich, daß schon das bloße Überleben der radikalen Bewegung als einer politischen Kraft in Frage steht. Wie reagiert die Bewegung auf diese neuen Verhältnisse?(S.47)

Die Linke war schon immer gespalten.(S.47)

Sie arbeiten unter einem offenen Horizont verschiedener Alternativen und Ziele, Strategien und Taktiken.(S.47)

....Ähnliches gilt für Begriffe wie „Proletariat“, „Ausbeutung“ oder „Veelendung“. Wer die Leute mit diesen Ausdrücken bombardiert, ohne sie in die gegenwärtige Situation zu übersetzen, wird ihnen die Marxsche Theorie kaum nahebringen können. Bestenfalls dienen diese Ausdrücke als Erkennungszeichen für Intim-Gruppen (Progressive Labor Party, Trotzkisten usw.); im übrigen wirken sie als bloße Klischees - das heißt überhaupt nicht.(S.49)

Heute steht jede Demonstration vor der stets gegenwärtigen (latenten?) Gefahr, unterdrückt zu werden; Eskalation ist dem Zustand immanent. Diese Gesellschaft ist bestrebt, der Opposition das Prinzip der Gewaltlosigkeit aufzuzwingen, während sie ihre „legitime“ Gewalt täglich perfektioniert und dadurch den Status quo schützt.(S.65)

Gegen vage, allgemeine, nicht greifbare Ziele gerichtete Aktionen sind sinnlos; schlimmer noch, sie mehren die Zahl der Gegner.(S.67)

„Der Klassizismus - stellen wir das ohne weitere Einleitung fest - repräsentiert für uns heute, wie schon immer, die Kräfte der Unterdrückung. Der Klassizismus ist das geistige Gegenstück zur politischen Tyrannei. Das war im Altertum so und in den Reichen des Mittelalters. Es wurde wiederbelebt in den Diktaturen der Renaissance und ist seitdem das offizielle Glaubensbekenntnis des Kapitalismus.“(S.109)

Als die Weißen die Musik übernahmen, fand ein bezeichnender Wandel statt; der weiße „Rock“ ist, was sein schwarzes Vorbild nicht ist, nämlich Veranstaltung. (S.134)

In mir streiten sich die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum
Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers.
Aber nur das zweite
Drängt mich zum Schreibtisch.  Bertolt Brecht (S.137)