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Salzburger Nachrichten vom 19.12.2000 INTERVIEW SN: In Ihrer neuen, via MTV ausgestrahlten TV-Show "U 3000" wird der TV-Wahnsinn unserer Tage auf die Spitze getrieben. Was wollen Sie damit erreichen? Schlingensief: Wenn man 40 wird, besteht die Gefahr, umarmt zu werden. Da locken die Privatsender mit Comedy-Shows und einiges mehr. Mit "U 3000", dieser mobilen Containershow im Berliner Untergrundnetz, möchte ich neue Felder betreten, gegen Gleichförmigkeit ankämpfen: querzappen. Wer die acht Folgen der Show sieht, merkt, dass ich nicht zuverlässig bin. Es ist wie im Krieg an der Front, wenn der Admiral einen Befehl ausgibt, auf die eigenen Leute zu feuern. SN: MTV ist für Sie ja ein neues Medium, eine neue Herausforderung. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Schlingensief: Es ist nicht so, dass das MTV-Publikum für mich eine völlig neue Zielgruppe ist, ich habe unter den Jüngeren viele Fans. MTV hat sich mit mir sicher ein Kuckucksei gelegt, die haben gelernt, dass man mit mir nicht gut planen kann. Es gab Zensurversuche, mittlerweile muss ich, damit ich überhaupt noch in den Schneideraum darf, Miete zahlen. Aber das ist es mir wert. Die Sendung sehe ich weniger als Show, eher als soziale Plastik. Und: Ich habe durch "U 3000" meine Eltern verloren. Nach der ersten Sendung haben sie jeglichen Kontakt abgebrochen. SN: Müssen Sie nicht, um Aufmerksamkeit zu erregen, stets die Dosis erhöhen - ein Umstand, der Sie in die Nähe einiger Politiker rückt? Schlingensief: Bei Dosis denke ich an die Homöopathie. In mir wohnen ja auch unter anderem Selbstzweifel und Ängste. Es ist nicht auszuschließen, dass ich wieder einmal etwas Ruhigeres mache, einen Passionsfilm zum Beispiel. Es ist nicht notgedrungen so, dass in der nächsten Show eine Kuh geschlachtet werden muss. Obwohl: vielleicht sollte Hermann Nitsch dies einmal in unserem fahrenden Container machen. SN: Wenn, wie im Falle des Wiener Container-Projektes, wieder einmal alle in Ihre Falle tappen: empfinden Sie da Genugtuung, oder macht Ihnen das exakte Eintreffen des Erwarteten nicht auch Angst? Schlingensief: Diese Verärgerung war nicht beabsichtigt. Ich war selbst sehr überrascht, wie groß dieses Ding dann geworden ist. Bisweilen war ich nicht mehr Herr der Lage. Ich konnte hinter der Aktion verschwinden, die Hauptrollen haben dann andere übernommen. Viele Politiker haben bei diesem Projekt mitgemacht, ohne Bezahlung. Berechenbarkeit wäre der Tod meiner Sache, die Kraft liegt immer im Überraschungspotenzial. Ich selbst wurde kürzlich durch eine Arbeit von Matthew Barney überrascht. Das ist wie beim Sex, wenn man gebannt ist. Gebannt und gespannt ist, was über einen hereinbricht. SN: Sie spielen jetzt wieder mit dem Gedanken, politisch aktiv zu werden, wollen "der angeblichen Neuen Mitte ihre Grenzen zeigen". . . Schlingensief: Das mit dem Kanzlerkandidaten ist passe`, aber wir wollen doch weiterarbeiten. Es geht um diese Mitte, die sich so sicher fühlt. Aber: Wer in der Mitte steht, steht an der Grenze zwischen zwei Welten. Ich denke da an eine Plattform, die in der Lage ist, unterschiedlichste Gruppierungen zu vereinen. Arbeitstitel: Obszöne Amöbe. Bei der "Chance 2000" gab es die Slogans "Scheitern als Chance. Wähle Dich selbst". Jetzt könnte das Motto lauten: "Bekenne den Verlust". Im kommenden Jahr veranstaltet die "Lovesick Society" in Berlin einen Liebeskrankenkongress. Vielleicht ist das dann die Geburtsstunde für eine Partei der Liebeskranken. Der Widerspenstige tourt durch die Lande, er wird sich garantiert auch weiterhin nicht zähmen lassen, bewirbt sekundär sein Buch zum Wiener Containerprojekt, primär aber seine Lebensmaxime, die ihn letztlich immer mit dem Schutzschild der anarchistischen Immunität umgibt und ihm selbst wiederum Ein- und Ausfälle nach allen Richtungen erlaubt. "Ihr traut mir nicht. Ich traue euch nicht. Damit haben wir ja schon unsere Gemeinsamkeit", teilt er den Zuhörern in Saal sprengender Atmosphäre in den Räumlichkeiten des Grazer Kunstvereins mit. Er tut dies mit seinem Markenzeichen, dem Lausbubenlächeln samt (b)engelhaften Unschuldsaugen - und, unwiderlegbar, auch mit derlei Erkenntnissen lässt sich eine Kultusgemeinde schaffen. Neustart. Und diese hat Schlingensief, in größerem Maße, ja auch wieder im Sinn. Er möchte politisch neuerlich aktiv werden, diesmal wohl auch geläutert durch Pleiten, Pech und finanzielle Pannen mit der vormaligen Subversivfraktion "Chance 2000", die ihm eine erst vor einigen Tagen getilgte Schuldenlast von rund 1,1 Millionen Schilling einbrachte. Als geistiges Grundgerüst erachtet er dabei weiterhin die absolute innere Ertüchtigung durch die Antihaltung allem und jedem gegenüber. Aber als Zyniker will er sich keinesfalls mehr etikettieren lassen. Um da, einstigen möglicherweise Gleichgesinnten gegenüber, mit Salzwasser zu gurgeln. "Harald Schmidt war der letzte Entertainer, den ich lange Zeit noch akzeptieren konnte. Aber er hat seinen Kredit ziemlich aufgebraucht, sich seine Taschen bis oben hin vollgestopft und will sie jetzt nur noch voller kriegen." Eine wichtige Fähigkeit kann man Schlingensief, diesem scheinbar so rastlosen Nonsensverkäufer und Unheilstifter im Außendienst, ganz sicher nicht absprechen: Er führt dem Publikum unentwegt vor Ohren und Augen, in welchem politischen und kulturellen Bild- und Wortschwall es täglich untergeht, ohne darüber nicht wenigstens schmerzlich-herzlich lachen zu können. Ein neues Zeitalter des Pathos schwebt ihm vor, herausgefiltert aus der "permanenten pathetischen Selbstbeschmutzung, die Leute wie Kohl oder Haider betreiben". Aber da treibt es ihm, im Nihilismus ebenso bestens geschult wie im Zen-Buddhismus, und sich im Schulterschluss mit der deutschen Denklatte Peter Sloterdijk wissend, schon wieder pathetisch die Arme auseinander und den Schalk in den Nacken. "Wir müssen unser Körbchen sauber machen", gibt er als Sprechübung an die Zuhörer weiter. Wer da mitmacht, geht ihm schon wieder knietief auf den Leim. Keiner tut es; dafür gibt es Applaus samt Fanfare, mittels Tonband eingespielt. Von Klebrigkeit und Schleimigkeit zeugt ein anderer Zeitbefund Schlingensiefs: "Unser wirkliches Problem ist ja gar nicht der Rinderwahnsinn. Wir haben eine extreme Schnecken-BSE. Alle glauben, dynamisch unterwegs zu sein, dabei treten oder hocken sie auf der Stelle und regen sich furchtbar darüber auf, dass sich gegenüber doch etwas oder einer bewegt. Das wieder finden sie dann ganz, ganz gemein." Ochsenmäßig dumm? Wohl nicht. Geisterbahn. Er, der bekennende Fan und Verfechter aller Peinlichkeiten, brütet unermüdlich neue Utopien aus und macht dabei so manches Nestchen schmutzig. Neuerdings auch beim Musiksender MTV, der als durchaus chaoserprobt galt. Bis dort Schlingensief mit seiner Spiel- und Talkshow "U 3000" Einzug hielt - als leibhaftiger Untergrundberserker. Denn Schlingensief moderiert die Show in einem fahrenden Waggon der Berliner U-Bahn. Und sorgt dabei für Entgleisungen am laufenden Band. "Ich glaube, denen habe ich damit ein fürchterliches Ei gelegt", meint er. Das Lächeln, das diese Aussage begleitet, mag und kann sich wohl jeder selbst ausmalen. Bleibt noch sein Buch über das "Ausländer Raus"-Projekt. Eine Fundgrube an kakanischen Skurrilitäten, das in der edition suhrkamp erschienen ist und von Schlingensief uneitel ("Jetzt haben sie den Marcuse und
mich") so beworben wird: "Laut Suhrkamp-Vertrag wird garantiert, dass das Buch mindestens 120 Jahre lang zur Verfügung steht. Also wahrscheinlich auch noch, wenn Haider schon mumifiziert ist." Eine Spielzeit der alten Meister steht bevor: mit Peter Brooks „Hamlet“-Inszenierung, Peter Zadeks „Bash“ und drei Einaktern des amerikanischen Autors Neil LaBute. Klaus Michael Grüber wird „Roberto Zucco“ inszenieren und Frank Castorf einmal mehr Dostojewski. Zudem kommen auch junge Meister wie Thomas Ostermeier mit „Supermarket“ von Biljana Srbljanovic. Das Programm wird dominiert von erprobten Koproduktionsallianzen; es herrscht ein eher traditioneller Theaterbegriff. „Du bist die Welt“ Ergänzt wird dieses Programm um eine interdisziplinäre Laboranordnung in den Ausstellungs-, Theater- und Kinoräumen des Wiener Künstlerhauses: „Du bist die Welt – 24 Episoden über das Leben von heute“ an 24 Tagen. Einar Schleef trägt den „Puntila“ vor – solistisch, ohne nackte Leiber. Auch hier also kein Wiener Skandal. Im Erscheinungsbild nutzen die Wiener Festwochen unbenommen eine progressistische Rhetorik. „Vom 11. Mai bis 18. Juni 2001 wird’s kritisch“ steht auf den Plakaten; also ein künstlerisches Reflexionssolo mit Ansage. Das erinnert ein wenig an die Informationsblätter, die die Festwochen im Sommer vor Schlingensiefs Asylanten-Container anbringen wollten: Hier beginnen die Reservate der Reflexion. Grenzen, die Christoph Schlingensief am Abend des selben Tages zu sprengen trachtet: im Wiener Schauspielhaus auf dem Podium in der Doppelconférence mit Luc Bondy zur Präsentation einer Buchdokumentation über den Container. Bondy will das Markenzeichen Schlingensief durch sparsamen Einsatz vor dem Verschleiß schützen – in den kommenden Jahren soll er wiederkommen, „solange ich die Festwochen auf meinem Rücken trage“. Schlingensief dagegen versendet sein Charisma und sein Ressourcen hyperaktiv in der Fülle seiner Produktionen. Als Event ist der Provokateur und Selbstprovokateur in Wien möglich, als künstlerische Praxis, die sich von ihrem Guru emanzipieren könnte, offenbar nicht. uwm Jdl. Container und Contenance, das wollte im sommerlichen Wien nicht zusammengehen. Christoph Schlingensiefs Aktion «Ausländer raus» hat das sanktionsbedrohte Österreich in die Lage der Selbstbespiegelung versetzt: ein Volk von Statisten in einer von Schlingensief inszenierten Farce. Man konnte seinen patriotischen Zornmit dumpfen Parolen gegen den deutschen Provokateur entladen oder mit den Mitteln einer verquälten Redlichkeit mit ihm sympathisieren. Entgehen konnte man der Österreich-Falle nur durch Ignoranz. Alle waren sie da, alle nahmen sie Stellung: der Boulevard und Haiders Freiheitliche, Künstler und Kulturpolitiker, Daniel Cohn-Bendit und Peter Sellars. Die Forderung des Regisseurs, das Container-Spektakel in alle Welt zu verschicken, am besten dorthin, wo die Not mit der Ausländerfeindlichkeit am grössten ist, blieb allerdings ohne Konsequenz. Statt weltweit auf Tournee zu gehen, wird Schlingensiefs «anti-apathische» Aktion jetzt im Taschenbuchformat fortgesetzt. Die Dokumentation des «Ausländer raus»-Projekts verbindet seine Geschichte mit Schlingensiefs «Container-Report», den reich bebildernden Trash mitdem klugen Essay. «Österreich ist ein jahrhundertealtes Projekt zur Selbstaufhebung, das vor nichts so viel Angst hat wie vor sich selbst. Es sei denn, vor dem Rest der Welt, der droht, sich in diesen Prozess und seine Mythologien einzumischen», schreibt Georg Seesslen, der sich die Frage stellt: «Ist Österreich als absurdeste aller ‹Kulturnationen› verloren?» Gewonnen für Schlingensiefs Projekt wurde der Ritterschlag durch die deutsche Intelligenz. Alexander Kluge und Peter Sloterdijk erweisen einem Projekt die Reverenz, das sich in der Dokumentation von Matthias Lilienthal und Claus Philipp auch sonst in gut gewählter Verwandtschaft befindet. Die Filme Luis Buñuels bebildern das Buch ebenso wie der Surrealismus der«Neuen Kronen-Zeitung» und des österreichischen Volksschauspielers Hans Moser. «Ausländer raus» ist Schwerverdauliches. Was mag Elfriede Jelinek an Christoph Schlingensief? - «Dass er den Herrschenden die Zustände wie eine Torte ins Gesicht zurückschmeisst.» Schlingensiefs «Ausländer raus». Dokumentation von Matthias Lilienthal und Claus Philipp. Mit zahlr. Abb. und CD. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2000. 272 S., Fr. 19.-. Christoph Schlingensief stellt sein Projekt am Samstag, 16. Dezember, um 20 Uhr in der Zürcher Schiffbauhalle vor.
Wien - Im Sommer hat Christoph Schlingensief mit seiner Abschiebe-Aktion "Bitte liebt Österreich" vor der
Wiener Staatsoper bei den Festwochen für großen Aufruhr in Österreich gesorgt. Jetzt hat der Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main einen Band mit den Aufzeichnungen des deutschen Theater-Provokateurs rund um das
Projekt veröffentlicht, bei dem zwölf Asylbewerber nach dem Muster von Big Brother in einem Container lebten, wo sie rund um die Uhr von Kameras beobachtet wurden. Das Publikum konnte live zusehen und Kandidaten zur
Abschiebung auswählen. Am Mittwoch stellte der Unruhestifter im Wiener Schauspielhaus das Buch "Schlingensiefs Ausländer raus" vor. Neben der Rückschau gab Schlingensief einen Ausblick auf künftige Pläne - unter anderem auf seine Absicht, in einer Art "Theater-Franchising-System" innerhalb von zwölf Wochen an zwölf Orten zwölf Klassiker zu
inszenieren. Diese Jugend braucht neue geistige Führer, neue Formate, neues Fernsehen. Christoph Schlingensiefs "U3000" beispielsweise. Ab 30. November um 22 Uhr läuft Schlingensiefs Talkrunde, aufgenommen in einer fahrenden U-Bahn, jede Woche auf MTV. Am vergangenen Wochenende wurden die ersten Folgen in der U7 auf ihrem Weg von Britz nach Spandau und retour aufgenommen. Normale Fahrgäste müssen draußen bleiben, weil die BVG nicht ihre Kunden verprellen möchte. Wer aber als geladener Gast in den mit Konterfeis von Helmut Kohl, Margot Honecker, Jesus und Che geschmückten Wagen mitfuhr, fragte sich, wie wohl das mehrstündige Chaos im Untergrund auf MTV-taugliche 30-Minuten-Happen zurechtgeschnitten werden kann. Der Versuch eines Protokolls: In Britz-Süd betritt Schlingensief das mit Senioren, Journalisten, Schauspielern und talentierten Behinderten gefüllte Talkabteil. Er hält Marcuses "Konterrevolution und Revolte" von 1972 in die Kamera, als sei es die Bibel, und spricht: "Es geht hier nicht ums Fernsehen, sondern ums Lernen." In der Station Grenzallee steigen eine authentische dreiköpfige Neuköllner Familie und ein allein erziehender Vater im Metallica-T-Shirt samt zweier Säuglinge ein: die Spielshowkandidaten. Laut Schlingensief werden diese in einem harten Wettbewerb ausgewählt. Während der Vater auf einem Schrottplatz ein Auto zertrümmern muss, in dem seine Familie sitzt, schwimmt Berlins Kultursenator nackend in der eiskalten Spree. Wer länger aushält, darf in die Show. Christoph Stölzl hat anscheinend verloren. Haltestelle Kleistpark. Roberto Blanco steigt zu und muss gegen die Sozialfallfamilie im Eierlaufen bestehen. Dann soll er einen Spendenaufruf starten. Der Erlös kommt der Familie zugute. Die will noch ein Kind. Dafür muss sich die Frau erst entsterilisieren lassen. Herr Blanco versteht augenscheinlich nix. Kurze Zeit später aber darf er von seinem Traum erzählen. Es wäre doch schön, meint er auf Schlingensiefs Frage nach der Notwendigkeit gesellschaftlicher Revolutionen, dass alle Arbeitslosen endlich arbeiten würden. Der Talkmaster kündigt eine Liveschaltung in einen Kreißsaal und in ein Sterbezimmer an. Aus dem Tanzabteil der U-Bahn, wo die bestellte Jugend das machen darf, was sie am besten kann, wird eine Schlägerei gemeldet. Die Ereignisse überschlagen sich. Das Berliner Modeduo "Pompöös" kleidet Schlingensief in einen türkisen Tuntenfummel und verwandelt die Neuköllner Mutter in Marylin Monroe. Geld fliegt durch die Luft, Roberto Blanco mag nicht singen, und Schlingensief erzählt davon, dass Stalin bei seiner Geburt Schwimmhäute am Fuß hatte. Doch kurz vor Britz wird alles gut. Die sozial Schwachen gewinnen 1000 Mark, und der nass geschwitzte Moderator kündigt an, dass unsere Gesellschaft 2010 eine andere sein wird. Die Kameras sind ausgestellt. Schlingensief, das große Kind, hechelt dem Journalisten zu, dass er das mit Marcuse in der nächsten Sendung noch ausbauen möchte. Stargäste sind Margot und Maria Hellwig. Und die U7 rollt wieder an zu einer Fahrt, die im Untergrund Revolutionen sucht und nur zersplitterte Schicksale findet.
Neue Rolle: Christoph Schlingensief spielt für MTV einen Showmaster Rumms. Mit einem Krachen fällt die Tür der U-Bahn zu. Die Tür soll für die nächsten anderthalb Stunden geschlossen bleiben, wird dafür sorgen, dass die Geister Rudi Carrells und Robert Lembkes, Rudi Dutschkes, Bert Brechts und Jean Baudrillards einmal ungestört zusammen feiern können. Denn wir befinden uns in der "U 3000", der ersten in einem fahrenden Waggon gedrehten Show der TV-Geschichte. Und natürlich wird dies keine normale Fernsehshow - hier soll das System Schlingensief herrschen. Für MTV gilt es, eines von acht Spektakeln zu inszenieren, in dessen Mittelpunkt der chaotische Moderator Christoph Schlingensief steht, jener Regisseur, der im Juli dieses Jahres die Österreichische Republik düpierte, indem er vor der Wiener Oper Container aufstellte, Asylsuchende einlud und das TV-Publikum abstimmen ließ, wer wann abzuschieben sei. Einen wie ihn wünscht sich der einstige Teeniesender, der nicht mehr nur Abspielkanal für Musikvideos sein will und mit Slogans wie "Hauptsache Fit im Kopf" um die kaufkräftige Zielgruppe der popinteressiert gebliebenen 29- bis 39-Jährigen wirbt. In seiner U-Bahn will Schlingensief zusammenbringen, was nicht zusammengehört: altbackene TV-Legenden wie Margot Hellwig, Roberto Blanco und Gotthilf Fischer treffen hier auf Stars der MTV-Generation wie 5 Sterne Deluxe, Surrogat, Die Sterne, Jürgen Laarmann oder Atari Teenage Riot. Wirres Gebrüll Dass es für ungewöhnlichen Erfolg ungewöhnlicher Formate bedarf, hatte nicht zuletzt der Konkurrenzsender RTL 2 mit "Big Brother" bewiesen - und dessen Werbegelder hat MTV im Visier. Doch Schlingensief ist eher "ein Fall" als ein berechenbarer "Produzent ästhetischer Ereignisse" wie der Filmkritiker Georg Seeßlen einmal notierte - zum braven Quotenkasper wird er sich kaum machen. Der Zug setzt sich in Bewegung und von Schlingensief ist vorerst noch nichts zu sehen. Derweil nimmt Mario Garzaner auf einem improvisierten Minipodest Platz und versucht die Stimmung im Waggon zu heben. Garzaner, ein immer wieder auftauchendes Mitglied diverser Schlingensief-Produktionen, ist leicht behindert. Und doch überzeugt er als Moderator, jubelt wie ein Losverkäufer, singt mit Inbrunst Schlager und sorgt nebenbei dafür, dass sich die versammelten Gäste mit "Christoph, Christoph, Christoph"-Chören schon mal die Kehle heiser schreien. Sie werden Erfolg haben: Nach zehn Minuten fliegt die U-Bahn-Tür auf und Schlingensief stürmt in das Abteil. Er brüllt wirr, fuchtelt mit den Armen, lässt einige Begrüßungsformeln ahnen. Es ist ihm ernst mit dem Spaß, und es sage niemand, der Wahnsinn hätte nicht Methode: "Dies hier ist keine Prolo-Show" verkündet er und hält wie eine heilige Schrift Herbert Marcuses "Konterrevolution und Revolte" von 1972 in die Kamera: "Was ist das Revolte , warum sind wir hier im Untergrund, was wollten wir hier erreichen, was ist über uns los, vielleicht ist der Potsdamer Platz zerstört, vielleicht gibt es Deutschland schon nicht mehr, wer will beurteilen, was wirklich passiert ist. Ich habe wunderbare Gäste dabei, die das beurteilen können." Beispielsweise das links-revolutionäre Technokollektiv Atari Teenage Rioto und Roberto "Ein bisschen Spaß muss sein" Blanco. Bis zu seiner Einladung hatte er von Schlingensief noch nie gehört. Wie wird er reagieren, wenn er im Duett mit Garzaner seine größten Hits zum Besten geben soll, wenn er zum Eierlaufen in das Gedränge des Waggons geschickt wird - kurz: wenn er sich zum Idioten machen soll? Dabei war es Schlingensief selbst, der es einmal als "die Katastrophe der Talkshows" bezeichnet hatte, dieses "Vorgeführt werden". Doch an einem Entertainment-Felsen wie Blanco tropft selbst die Schlingensief sche Chaos-Brandung ab: Mit den Worten "Mein Gott ist das herrlich!" besteigt er das Tohuwabohu des Abteils, wird auch beim Eierlauf keine schlechte Figur machen und auf Schlingensiefs Frage, ob Deutschland eine politische Revolution nötig habe, eine Antwort geben, an der seine CSU-Nähe keinen Schaden nimmt. Erst beim Verlassen des Zuges wird er, ungläubig lächelnd, sich bekreuzigen. Möglicherweise hätte sogar Schlingensiefs Held Herbert Marcuse seine Freude an Blancos Auftritt gehabt. Er war Zeit seines Lebens der Frage nachgegangen, wie aus Befehle ausführenden Objekten eigenständig handelnde Subjekte werden können. Dass das auch eine Frage der entsprechenden TV-Konditionierung sein könnte, scheint Schlingensiefs Arbeitsthese zu sein, denn wer hier Subjekt und wer Objekt ist, bleibt in seiner Versuchsanordnung bis zuletzt offen. Unterhaltung als Farce Während der Waggon der Untergrund-Linie 7 zwischen den End-Stationen Britz und Spandau entlangrumpelt, lässt Schlingensief 30 Jahre deutscher Fernsehunterhaltung Revue passieren - als Farce, versteht sich. So karikiert er das Helfersyndrom des "Großen Preises", mimt den Sozialonkel à la Pastor Fliege oder greift den Trend zur Millionen-Show auf, indem er der schlecht verdienenden Neuköllner Gastfamilie vorjubelt: "Ihr könnt heute keine zehntausend Mark gewinnen, keine fünfzigtausend und auch keine Million. Nein, ihr könnt heute eintausend Mark in bar mit nach Hause nehmen." Nicht immer ist das lustig. Wie so oft bei Schlingensief bleibt einem das Lachen schon mal im Halse stecken. Wenn dann der Sohn der Gastfamilie die von Schlingensief in die Menge geworfenen Fünf-Mark-Scheine zusammenklaubt, wird deutlich, wie dünn die Grenze zwischen Parodie, Entertainment und Zynismus werden kann. Vielleicht ist diese Geisterbahnfahrt so etwas wie die postmoderne Antwort auf Hans Rosenthals "Dalli, Dalli". Wer hier die Fragen stellte und wer die Antworten gab, war durch ein klar definiertes Rollenspiel bestimmt. Und am Ende wurden die erspielten Gewinne wohltätigen Zwecken zugeführt. Bei Schlingensief ist nun nichts mehr klar. Schlingensiefs U 3000, 22 Uhr, MTV.
Zug ohne Plan: Christoph Schlingensief dreht im Berliner Untergrund seine neue Talkshow Von Helmut Schödel Als sich Christoph Schlingensief vor zwei Jahren zum ersten Mal als Talkmaster versuchte – das war ein rüder Vorgriff auf das Ende des gesamten Genres. Für „Talk 2000“ lud er damals seine Gäste in die Kantine der Berliner Volksbühne ein. Sie saßen auf einem Sofa und drehten sich auf einem runden Podest wie auf dem Teller einer Mikrowelle um ihre eigene Achse. Einmal verließ er seine eigene Veranstaltung, und bisweilen kam es zu handfesten Saalschlachten. Es war ein Waterloo des Fernsehwahns, ein Stalingrad des stupiden TV-Geschwätzes. Keine Sekunde lang heuchelte Schlingensief Gesprächsbereitschaft, Konsens als Ziel war ausgeschlossen, und in ruhigeren Momenten war der Talkwahn ganz bei sich selbst. Plötzlich sagte die Schauspielerin Sophie Rois: „Ich finde, man unterschätzt Chabrol. “ Darauf Schlingensief, der das Gerede schon wieder satt hatte: „Ja, das stimmt natürlich. Es stimmt überhaupt alles. Ich bin ziemlich durcheinander. “ Aber lieber ein großes Durcheinander als einen roten Faden im Gespräch, weil man ihn verlieren könnte. Diese Einsicht hob ihn von Anfang an weit über die Branchenführer hinaus. Sprengstoff und Revolution Jetzt fährt Christoph Schlingensief für weitere acht Talkshows, produziert vom Musiksender MTV, durch den Untergrund Berlins, vom Betriebsbahnhof in Britz bis nach Spandau und wieder zurück. Die Fahrten für die Talkshow „U 3000“ dauern pro Folge eineinhalb Stunden und werden ab 30. November jeweils um 22 Uhr wöchentlich gesendet. Es war das Wort „Führerhaus“, das ihn faszinierte und dann in die U-Bahn trieb. Zu Christoph Schlingensiefs Obsessionen gehört die deutsche Vergangenheit, und wo er heute Spuren davon findet, ist er zur Stelle. Jetzt fährt er also, vorne dran ein Führerhaus – so nennt man die Kabine, wo der Fahrer sitzt –, durch Berlins U-Bahn-Tunnel und fragt angesichts der bleichen Menschen in den trostlosen Bahnhöfen: „Warum sind die nicht bewaffnet!“ Denn eines der Themen dieser Talkshow heißt „Revolution“. Revolution und MTV – das ist der Sprengstoff 2000. An Bord sind viele Prominente: der Schlagersänger Roberto Blanco, die Volkssängerinnen Maria und Margot Helwig, der Flotillenadmiral Elmar Schmähling und Cindy und Bert. Neulich war auch der Schlagersänger Christian Anders da und sang im Tanzwagen „Es fährt ein Zug nach Nirgendwo“. Christian Anders war mit seiner Partnerin gekommen und sagte: „Herr Schliefenhöfer, darf ich Ihnen die Liebe meines Lebens vorstellen?“ Eine junge Frau von Irgendwo, die dann schon bald eine Toilette vermisste und aussteigen musste, begleitet von einem Kameramann. Das war, als Schlingensief rief: „Ich soll ein allgemein verträglicher Moderator werden! Genau das will ich nicht! Ich kann nur sagen...“ Er zitierte Götz von Berlichingen und gab dann, während draußen die Bahnhöfe vorbeiflogen, die Parole des Tages aus: „U-Bahn-Fahren ist frustrierend. Dieser Zug ist eine Sackgasse. “ Stürmt dann bei einem Stopp aus dem Zug und fragt einen Passanten: „Kennen Sie einen sozialdemokratischen Politiker, der sein Geld mit dem Kopf verdient?“ An Bord waren auch eine Großfamilie aus Indien als sozialkritische Einlage und Schlingensiefs Behinderten-Ensemble, das ihn durch alle Projekte begleitet. Der wunderbare Mario Garzaner, ein kleiner Mensch mit einer sympathischen Beißhemmung, isst nur Püriertes, spielte als Inder verkleidet den Animateur, und Achim von Paczensky spielte Jesus. Denn plötzlich rief Schlingensief, geschminkt wie ein Indianer auf dem Kriegspfad und eine Pelzmütze auf dem Kopf: „Wir machen jetzt die Passionsgeschichte durch!“ Es hatte gerade die Hochzeit von Maria und Joseph begonnen, als Schlingensief unterbrach: „Wir überspringen jetzt ein paar Sachen. Macht die Nägel fertig!“ Dann wechselte man mit einem geschulterten Holzkreuz bei einem Zwischenstopp vom Talk- in den Tanzwagen, wo Annemarie Wendel wartete, die Hausmeisterin aus der „Lindenstraße“. Gesang und Getümmel Eine U-Bahn fährt nach Nirgendwo. Und schon auf halber Strecke geht dem Reisenden tatsächlich jedes Gefühl für Ort und Zeit verloren. Eingeklemmt in die voll besetzten Waggons fühlt man sich dem tragischen Leben der Sardinen plötzlich ziemlich nah. Da ist es eine große Hilfe, dass Schaffner Schlingensief gerade in der rechten Situation seinen Gästen die notwendigen Fragen stellt: „Hat sich die Hoffnung Ihres Lebens erfüllt?“ Und Mario Garzaner, mitten im stickigen Getümmel, singt: „Das ist die Berliner Luft. “ Eine U-Bahn ist das nicht mehr. Diese Bahn ist der Wahn. Die Wahn-Bahn. Als sich der Zug wieder Berlin-Britz näherte und Schlingensief gerade Fünf-Mark-Scheine in die Luft warf – „Rettet die Marktwirtschaft! Schmeißt das Geld weg!“ – sang im Tanzwagen ein Sänger mit Gitarre: „Es lohnt sich nicht zu warten, bis es besser wird. “ Es war wie immer bei Schlingensief: Der Wahn ist die Maske der Wahrheit. „Talk 2000“ – das war die letzte Talkshow. „U 3000“ – das ist die erste in der Zeit danach. Sechs Folgen sind abgedreht. Nächstes Wochenende fährt der Zug wieder los, für Folge sieben und acht. Dann wird es wieder aus dem Führerhaus tönen: „Allet drinne. Wir rollen. “
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