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REZENSIONEN: Stand 9.12.2000 Der U-Bahn-Zug, der haltlos durch den Untergrund rast, dem tödlichen, finalen Crash entgegen, darin der Held, der ihn aufhalten muss: das Szenario kennt man aus Action-Filmen wie Speed. Solch eine U-Bahn auf der Reise ins Nichts ist ein wunderbarer Schauplatz für ein modernes Drama. Ganz klassisch werden die aristotelischen Einheiten von Ort, Handlung und Personen automatisch eingehalten, ganz heutig rattern die Räder dazu und versprechen Dynamik und Urbanität. Wenn Christoph Schlingensief mit seinem Chaos-Theater in eine U-Bahn steigt, steht am Ende der Fahrt nicht die Katastrophe, sondern einfach nur Berlin-Spandau; dafür gibt es die ganze Fahrt über Speed, und der Crash wird in jeder Sekunde inszeniert. U-Bahn 3000 heißt Schlingensiefs neue Fernsehshow, zu sehen auf MTV. Das Umfeld ist also Pop; und auch der Trailer ist in der gewohnt raffinierten Ästhetik des Senders gemacht, eine komplexe Strich- und Flächenstruktur, aus denen sich im schroffen Takt von Drum & Bass gelegentlich die Diagonale eines U-Bahn-Wagens erhebt. Und auch in der Sendung findet sich als bewusst MTV-kompatibles Element die HipHop-Band im "Tanzwagen", die mehrere Minuten spielen darf, ohne von Schlingensief unterbrochen zu werden. Erleichtert schwingt sich die Kamera da in den gewohnten Wackel-Stil ein, wirft sich in coole Froschperspektive, wie das bei der Inszenierung von Bands so üblich ist. Doch drumherum gibt's Schlingensief, wie man ihn kennt, in einer Exzessivität, die kein Fernsehformat bannen kann. "Schnitt", schreit der entfesselte Bürgersohn einmal, aber statt MTV-typischer schneller Schnitte bekommt man eine Kamera zu sehen, die geduldig draufhält. Bei Schlingensief muss der Rhythmus nicht vom Wechsel der Einstellungen kommen, er folgt einfach der unermüdlich durch den Waggon wieselnden Hauptperson: Der Mann erreicht durch seine puren Aktionismus ein Reizniveau, das das eines durchschnittlichen Videoclips locker übertrifft. Eine Spielshow soll U-Bahn 3000 sein, und die notwendigen Assessoirs sind vorhanden. Es gibt Kandidaten in Gestalt der Familie Abels, die im Schnelldurchlauf ihr Sozialhilfeempfänger-Schicksal erzählen dürfen - drei Kinder, Mutter krank, Wohnung verschimmelt. Am Ende klauben sie Geldscheine auf, die Schlingensief in die Menge wirft. Es gibt eine "Außenwette", in der eine indische Familie jubelnd ihr Auto zertrümmert, während ein mit "Herr Stölzl" eingeführter Mann mit niemandem um die Wette schwimmt. Es gibt eine Jury, vertreten durch den Behinderten Mario, mittlerweile bekannt aus zahlreichen Schlingensief-Aktion an der Volksbühne und anderswo. Es gibt Showgäste in Gestalt von Maria und Margot Hellweg, die jodeln und die traurige Sozialhilfeempfängerfamilie bemitleiden; und bei all diesen Aktionen wird jubelnd "Punkte" eingeblendet, nur wieviele Punkte, das weiß niemand. Mittendrin der Moderator Schlingensief, der Röntgenaufnahmen seines Bandscheibenvorfalls zeigt, die Hosen herunterlässt, Whiskey trinkt und redet, redet, redet. "Halleluja, jetzt alle winken", schreit der Massenbezwinger, und das junge, szenige Publikum in der U-Bahn lächelt wissend und winkt, in der irrigen Meinung, eine ironische Distanz zu ihrer eigenen Erniedrigung transportieren zu können. Dabei sehen neben Schlingensief immer alle aus wie Idioten: Am wenigsten noch die Idioten selbst, die seine Extremperformance-Experimente seit Jahren mitmachen. Denn Schlingensief ist Aufklärer, und er hämmert es allen ein, die es hören wollen: In unserem Fernsehen ist das Publikum machtlos, eine grölende Schar von Mitläufern; die Gäste sind Staffage, niemanddarf ausreden außer dem Moderator, und der Moderator ist ein Arschloch. Als Frau Abels anfängt zu weinen, während ihr Mann von ihrer Krankheit erzählt, guckt die Kamera schnell weg - und Schlingensief beginnt zu brüllen, schimpft über die Hans Meisers und Co, die Geld verdienen an den weinenden Menschen, schimpft über die Gesellschaft, in der Leute wie die Abels weinen müssen, damit sie überhaupt irgendetwas bekommen, und schimpft schließlich über den Zynismus eines Harald Schmidt, eines Stefan Raab, denn: "Zynismus ist staatsstabilisierend". Und es stimmt: von der Konsens-Ironie Harald Schmidts, von der routinierten Provokation Stefan Raabs ist Schlingensief weit entfernt. Schlingensief missbraucht seine Familie Abels, er missbraucht seine Inder, die ihr Auto zerstören - aber er missbraucht sie im Dienste der Wahrheit. Er ist der letzte Moralist; der Zweck seiner Inszenierung ist Katharsis, die
Erregung von Mitleid und Furcht, die Reinigung der Affekte im Dienste eines besseren Menschen. Ab jetzt jeden Donnerstag: MTV als moralische Anstalt. lex. MTV beschäftigt wohl etliche Trend-Scouts, um der Aufmerksamkeit seines juvenilen Zielpublikums Beständigkeit zu verleihen; jetzt wird - Respekt! - gar mit dem Anarcho-Clown des deutschen Kultur-Establishments paktiert.
Es ist ein Pakt mit einem smarten TV-Teufelchen. In Britz-Süd betritt der Apothekersohn aus Oberhausen die U-Bahn der Linie 7; im Schlepptau hat er eine fidele Ausflugsgesellschaft mit Senioren, Journalisten, Schauspielern und
der vertrauten Gruppe talentierter Behinderter. Dem normalen Fahrgast bleibt der Zutritt verwehrt, zu explosiv ist die Schicksalsgemeinschaft auf ihrem Höllentrip. Trifft sich hier eine obskure Sekte mit einem komischen
Heiligen an der Spitze, der in der Pose des Erlösers jeden zweiten Satz mit einem Halleluja bechliesst? In ein togaähnliches Eremitengewand gekleidet, wirbelt er durch den Wagon und kotzt sich verbal aus bis zur körperlichen
Erschöpfung. In Berlin gibt es viele fahrende Musikanten. Sie betreten die U-Bahn immer knapp vor der Abfahrt, klimpern ein Lied, nehmen eine müde Mark in Empfang und hinterlassen eine Stimmung vager Hoffnungslosigkeit. Für Christoph Schlingensief sind diese Sänger "Bomben, die darauf verzichten, sich selbst zu zünden", und damit ein weiteres Symptom für den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Depression, den man in allen wichtigen Denkschulen des neuen Deutschland verstehen möchte. Die erste Folge von U-3000, dem neuen, in einer Berliner U-Bahn gedrehten Talk-Projekt von Schlingensief, endet denn auch mit einer Prophezeiung: "In zehn Jahren wird sich dieses gesellschaftliche System selbst zerstört haben." Danach explodiert das Show-Logo in einer typischen MTV-Grafik - es ist eine elegante Bewegung der Zeichen, und sie wirkt frivol nach Schlingensiefs frenetischem Menschenfischzug für diese Talk-Show, die wie alle seine Aktionen weit in seine persönliche Geschichte zurückreicht. Die Prophezeiung über den Untergang dieser Gesellschaft hat er, so Schlingensief im Gespräch mit dem STANDARD, seinerseits von Joseph Beuys gehört, bei einer Veranstaltung des "Lion's Club" an der Seite seines Vaters. "Ich war damals noch ein kleiner Junge, und wir saßen da und hörten uns eine Rede von Beuys an, und am Ende sagte er: ,Diese Gesellschaft ist in sieben Jahren komplett zerstört.' Da haben sie alle gebellt! Das gibt's doch nicht, und so weiter. Aber ich habe bemerkt, dass sich mein Vater jedes Jahr im Kalender das Datum dieser Rede eingetragen hat, und nach sieben Jahren war Beuys widerlegt." Mit U-3000 wird er wieder ins Recht gesetzt, denn das Ende der Gesellschaft ist nicht wörtlich zu nehmen, sondern als prophetische Rede, und man sieht Schlingensief an, wie sehr ihn der wiedergefundene Kampfruf "Halleluja" aus einem Zustand der "Abstraktion" herausführt, in den er über die letzten Jahre hinweg gekommen war. Der Erfolg seiner Theaterunternehmen, sein wachsender Ruhm als Störenfried, seine genial improvisierten Operationen an den Nervenenden der Mediengesellschaft hätten ihn sich selbst entfremdet, erzählt er. Erst eine Afrika-Reise, die Container-Aktion in Wien sowie eine neue Beziehung brachten ihn wieder auf die Geleise, und plötzlich war die U-3000 abfahrbereit. Ausgerechnet auf MTV, wo noch jede Verausgabung in eine Pose verwandelt wurde. Aber Schlingensief bewirkt tatsächlich das Wunder der Rückverwandlung (die religiösen Bilder legt er alle selbst nahe). Seine "Entäußerung" endet siegreich, zumindest in der ersten Folge. Er geht integer aus dieser Show hervor, auch wenn er manchmal seine Position herausbrüllen muss: "Das will ich nicht. Halleluja!" Er will keine Proll-Show, auch wenn er etwa mit der schwer kranken Frau Abels und ihrem schmächtigen Mann Menschen eingeladen hat, die im Fernsehen immer nur vorgeführt werden können, und mit den Jodlerinnen Maria und Margot Hellwig zwei Glockenstimmen, die immer noch einen paraten Satz zu viel auf Lager haben: "Aber wir haben doch ein Sozialsystem." Logik der Überbietung Das System ist zu langsam für Frau Abels, während die U-3000 mit 55 Stundenkilometern fährt. Schlingensief weiß, dass seine Talkshow nur durch eine Logik der Überbietung funktionieren kann. "Ich bin Ihr ganz persönliches Arschloch!" Als Moderator muss er "durch die Hölle gehen", und seine Gäste mit. Auf eine großartige Weise kehrt Schlingensief so auch wieder zu seinen filmischen Low-Budget-Anfängen zurück. Bei MTV wird schnell geschnitten, also musste Schlingensief körperlich dagegenhalten. "Wir haben mit jeder neue Folge neue Tricks ausprobiert, wie ich mich markieren konnte, um nicht anschlussfähig zu werden. Ich habe mich sukzessive bemalt, damit man mich nicht schneiden konnte, ohne einen seltsamen Sprung zu haben." Mit dem Ergebnis der ersten Folge kann er trotzdem gut leben, es ist auch keineswegs Formatfernsehen. Gegen Ende gibt es ein schönes Experiment, wenn die Zuseher in Königswusterhausen aufgefordert werden, den Fernseher auszuschalten und so den Stromverbrauch signifikant zu senken, was U-3000 sich als eine negative Quote wieder auf die Fahnen heften könnte. Für die nächsten Folgen darf man ein schönes Bild erwarten: Schlingensief als der neue Siegfried, dessen Drachenhaut eine verwundbare Stelle aufweist, weil er beim Vollbad eine Aktie auf dem Rücken trug. Das ist eine
Messiasrolle nach seinem Geschmack, und Schlingensief hat gute Zeugen. Er hält Marcuses Buch Konterrevolution und Revolte in die Kamera und ruft: "Das ist in der edition suhrkamp erschienen, da gibt's jetzt auch ein Buch von mir!": Schlingensief's Ausländer raus,
herausgegeben von Matthias Lilienthal und STANDARD-Kulturressortleiter Claus Philipp, wird er übrigens am 13. 12. im Wiener Schauspielhaus präsentieren. Frankfurter Allgemeine Zeitung Eisenbahn zur Hölle Hier wird nicht gelogen! PRO - von Jörg Burger MTV, das ist die Bilderhölle, die Welt von Glanz und Oberfläche. Was tut ein falscher Heiliger da, in Sandalen und Priestertoga? Was will er dort mit all den Armen und Kranken, die ihm folgen? Glauben sie ernsthaft, sie fänden Erlösung im medialen Fegefeuer? Der Mann hat seine Anhänger in die Irre geführt: den Behinderten, der ein bisschen den Moderator spielen darf; die Schlagersängerinnen, die lächeln und jodeln, als wäre dies nicht der völlig falsche Ort; die "Kandidatin" eines Ratespiels, die der Meister mit sinnlosen Fragen malträtiert, bis sie in Tränen ausbricht. Christoph Schlingensief hat Menschen ins Fernsehen geholt, um sie und die Zuschauer zu quälen. Seine neue Talkshow heißt U 3000 und wird in einer fahrenden U-Bahn aufgezeichnet, auf dass der rasende Medienirrsinn sich beschleunige, bis es ihn zerreißt. Dass es diesmal nicht ganz klappt, liegt nicht daran, dass Schlingensief niemanden gegen sich aufzubringen vermag - darauf kommt es ihm bei seinen Aktionen nur am Rande an, um der eigenen Wirkung willen. Der TV-Terrorist scheitert vor allem als Bilder- und Ideenlieferant, der dem allgegenwärtigen Wahnsinn nicht viel mehr entgegenzusetzen hat als den eigenen Wahn. In den meisten anderen Fällen erweist sich dies als geniales Konzept. Schlingensief nutzt die Denkweisen von Werbung und Marketing, und er kehrt ihre Kraft um, denn er will Wahrheiten nicht verschleiern im Interesse eines Auftraggebers, sondern sie gnadenlos offenlegen. Seine Aktionen zeigen die Welt an ihren Bruchstellen, dort, wo sie gerade aus den Fugen kippt. Ein gelungenes Werk von Schlingensief ist ein Fanal, die Medien liefern ihm die Vorlagen. Wenn Schlingensief gut ist, zeigt er uns Dinge, die wir noch nicht zu denken oder zu sehen wagen. Vor drei Jahren führte er mit Talk 2000 die Idee der Talkshow auf das Terrain des völlig Absurden. Ein großer Spaß; der Gegner hat sich das Konzept längst abgeguckt. Vor ein paar Monaten setzte Schlingensief in Wien angebliche Asylbewerber in einen Container, überwacht von Kameras. Zuschauer sollten entscheiden, wer abgeschoben wird. Was aus dieser teuflischen Idee wird, werden wir bestimmt bald erfahren. CONTRA - von Nils Minkmar Halleluja! Seit über siebzehn Jahren erscheint uns Christoph Schlingensief alle paar Monate in einem neuen Medium. Mit Filmen fing es in den Achtzigern an, dann widmete er sich dem Theater, später einer Talkshow, einer politischen Partei und einem Wanderzirkus. Und jedes Mal hat er gründlich wie kein anderer den alten Marshall McLuhan widerlegt: Das Medium, so beweist Schlingensief, ist nicht die Botschaft, denn die Botschaft bleibt in allen Medien gleich. Sie lautet: Schlingensief! Ihn umgibt dabei ein Kranz von diffusen, immer irgendwie brisanten Themen, etwa Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, soziale Not und allgemeines seelisches Elend. Sie werden aber natürlich nicht vertieft, sie werden nur anmoderiert, denn dann folgt Schlingensiefs wirksamster und leider auch einziger Trick: Er scheitert. Bei jedem Schlingensief-Auftritt kommt unweigerlich der Moment, an dem er nicht mehr kann, aus der Rolle fällt und abbrechen muss. Dann spricht er über seinen Liebeskummer oder über sonst was und schreit. Ob dann Horst Mahler oder Ingrid Steeger neben ihm sitzt, ist völlig egal. In der neuen MTV-Sendung erleben wir ein Best of Schlingensief. In der ersten Folge präsentierte er Maria und Margot Hellwig - das ist das Moment des Bizarren, das man von ihm schon erwartet. Hinzu kam die
Berliner Familie Abels, von der man erfuhr, dass sie "ein schweres Leben" habe. Bevor wir mehr darüber erfahren konnten, rief der weiß gewandete Schlingensief schnell wieder Halleluja. Dann war endlich sein
Moment gekommen: Stellvertretend "für alle Liebeskranken Berlins" leerte er eine Flasche Jim Beam und zog sich aus. Später bat er die entsetzte Frau Abels um einen Kommentar zur Größe seines Penis, was ihr
schweres Leben ganz augenscheinlich nicht einfacher gemacht hat. Eines steht fest: Schlingensief hat mit der U-Bahn-Sendung sein perfektes Medium gefunden. In der U 3000 kommt er zu sich selbst: mit hoher
Geschwindigkeit und großem Lärm nirgendwohin rasend, aber immer im Bild! (c) DIE ZEIT 50/2000 Bei den Projekten des Theater- und Filmemachers Christoph Schlingensief ist nie genau auszumachen, wo die Wirklichkeit endet und der Wahnsinn beginnt. Natürlich weiß man, dass ein ehemaliger Fassbinder-Darsteller wie Peter Kern in der Lage ist, glaubwürdig sein eigenes Ableben zu spielen. Aber einen Augenblick lang halten es selbst die Mitarbeiter des Drehteams in dem überfüllten U-Bahn-Abteil für möglich, dass ihm tatsächlich etwas zugestoßen sein könnte. Diese sekundenkurze Irritation ist es, um die es Schlingensief geht: Weil sein Theater dann aufhört, Theater zu sein. Schlingensiefs neueste Inszenierung heißt "U 3000". Sie macht dort weiter, wo "Talk 2000" vor zwei Jahren aufhörte. Damals hatte Schlingensief einen Haufen von ganz, halb und gar nicht prominenten Gästen in die Kantine der Berliner Volksbühne eingeladen. Sie hockten auf einer Drehbühne, die sich langsam um die eigene Achse drehte, und hatten einander nicht viel zu sagen. Schlingensief schwieg lieber, als Fragen zu stellen, mit Martin Wuttke prügelte er sich, und Ingrid Steeger rannte heulend aus der Show. "Talk 2000", zu nachtschlafener Zeit auf Sat 1 versendet, war ein Kamikaze-Angriff auf das Genre Talkshow, der dann paradoxerweise mit einem Grimme-Preis dekoriert wurde. "U 3000" ist ein erneuter Versuch, die Sinnfreiheit des Fernsehens mit Hilfe des Fernsehens bis zur Kenntlichkeit zu entstellen. Nur, dass die Sendung diesmal unter der Erde und auf Schienen stattfindet. Und zwar im Auftrag von MTV. Acht Mal ist der aus vier Waggons bestehende Schlingensief-Sonderzug in der letzten Woche auf der Linie 7 zwischen dem Betriebsbahnhof in Britz Süd und der Station Rohrdamm hin- und hergependelt. Jede Fahrt dauerte rund zwei Stunden, von denen in der geschnittenen Fassung aber nur dreißig Minuten zu sehen sein werden. Bei der letzten Aufzeichnung am Samstagabend sind außer Peter Kern auch noch der Schlagersänger Frank Schöbel, die Rap-Band Fünf Sterne Deluxe, der Punkrocker Schorsch Kamerun, ein Operntenor und natürlich Schlingensiefs Theatertruppe mit an Bord. In den beiden Waggons, in denen gedreht wird, hängen Bilder von Helmut Kohl, Jesus, Hitler und Che Guevara an der Wand, Discokugeln baumeln von der Decke. Ansonsten sehen sie wie ganz gewöhnliche BVG-Waggons aus. Allerdings hat es die BVG nicht erlaubt, dass normale Fahrgäste zusteigen. Darüber wachen uniformierte BVG-Mitarbeiter an den Türen. Zwischenstopp am Südstern. Schlingensief, verfolgt von einem Kamerateam, stürzt sich auf einen Mann, der mit einer Bierdose auf dem Bahnsteig hockt. "Sie können jetzt ins Fernsehen kommen", ruft er ihm zu. "Na, dette kann ja nur ne' schwule Sendung sein", entgegnet der Dosenbiertrinker. Schlingensief trägt nämlich ein recht freizügiges Germanen-Kostüm, das aus Fellresten, etwas Wolle und einer Plastikfolie besteht. Womit wir schon beim Thema der Sendung wären: Richard Wagner, die gleichgeschlechtliche Liebe und der Tod. An der Berliner Straße steigt der Sprecher einer HIV-Selbsthilfegruppe ein, dem Schlingensief mit Gongschlag wie einst bei Robert Lembke genau eine Minute Zeit gibt, zu erklären, wie "Hoffnung sich einstellt für jemanden, der eigentlich schon tot ist". Der Sprecher erzählt, dass er "dem Tod schon öfter ins Gesicht geschaut, aber nie Angst empfunden" habe, dann wird er von dem Operntenor unterbrochen, der "Oh du, mein holder Abendstern" intoniert. Man kann Schlingensief für zynisch halten, weil er einem Aidskranken das Wort abschneidet. Aber so zynisch ist auch die Fernsehwirklichkeit, durch die wir uns täglich zappen. Bei Schlingensief ist das Fernsehen sozusagen schon fertig gezappt, wenn wir es einschalten. "U 3000" ist alles auf einmal: Gesprächsrunde, Quiz, Gameshow, Sozialreport. Der totale Talk. |
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